15. Plädoyer am 24.10.2011 - Kreativszene im Baudenkmal - Zur heutigen Nutzung des H7

Ansprache der Freien Filmemacherin Diemut Yanez

Wir stehen hier vor einem Gebäude, das in den fast genau hundert Jahren seiner Existenz immer wieder umbenannt wurde:

Erbaut als "Eisenbahndirection der Königlich-Württembergischen Staats-Eisenbahnen", hieß es später "Reichsbahndirektion Stuttgart", dann "Bahndirektion Stuttgart" und schließlich "Bundesbahndirektion Stuttgart".

Warum aber ist die Bahn heute nicht mehr hier ansässig?

Bei der Umwandlung der Bahn von einer Behörde in eine Aktiengesellschaft wurde 1994 die bisherige Gliederung in Direktionen aufgehoben. Deren Aufgaben übertrug man den neuen Geschäftsfeldern, also DB Bahn Fernverkehr, DB Bahn Regio, usw. In der baden-württembergischen Landeshauptstadt sind diese Geschäftsbereiche bzw. Tochtergesellschaften nicht mehr bzw. nur noch teilweise vertreten.

Also ging nach und nach - denn die Umstrukturierung dauerte ihre Zeit - die Zahl der Bahnmitarbeiter in Stuttgart deutlich zurück. Das weitläufige Gebäude war ursprünglich für bis zu 1.500 Beschäftigte konzipiert. Anfang der 2000er Jahre arbeiteten hier nur noch etwa 500 Menschen, sodass die Bahn das Gebäude endgültig räumte.

Kurze Zeit später stand in Stuttgart die Rathaussanierung an. Zum Ausweichquartier der Stadtverwaltung wurde die ehemalige Bahndirektion erkoren und eigens dafür noch mal richtig aufgemöbelt. Von hier aus wurde Stuttgart bis Mitte 2004 verwaltet.

Und dann begann für die altehrwürdige Eisenbahndirektion ein neues Kapitel.

Die ersten, die in dem leer stehenden Gebäudekoloss Einzug hielten, waren der "Kulturverein Dialekt" und der Club "Rocker33". Sie hatten ihre Räumlichkeiten im hinteren Gebäudetrakt in der ehemaligen Druckerei. Mit der Gestaltung dieser Räume war damals der Architekt Alexander Matthies beauftragt und er war es, der in diesem Gebäude das Potenzial für ein Existenzgründerzentrum entdeckte.

Sein Konzept basiert auf einer von vornherein zeitlich begrenzten Nutzung - daher auch der Name des Projekts: Raum-auf-Zeit.
Unterstützt wurde die Idee von der Wirtschaftsförderung der Stadt Stuttgart, und so kam es schließlich zu folgender Pressemeldung der damals noch bundeseigenen Immobiliengesellschaft Vivico:

"Frankfurt, 16. August 2006
Vivico hat einen Teil des Hauptgebäudes der ehemaligen Bahndirektion in Stuttgart, Heilbronner Straße 7, an das regionale Gründerzentrum "Raum auf Zeit" GmbH vermietet. Die Firma nutzt dabei ca. 3.900 Quadratmeter des Gebäudes und bietet Räume für Existenzgründer und junge Unternehmen in Verbindung mit einem abgestimmten Servicekonzept an."

Aus der einstigen Bahndirektion wurde nun also das "H7" - Heilbronner Straße 7.

Und - um das gleich vorwegzunehmen - das H7 wurde in der Folgezeit zum Pilotprojekt, nicht nur in Stuttgart, sondern auch darüber hinaus. Neu daran ist das Konzept der zeitlichen Befristung, wodurch Mieten in zentraler Lage bezahlbar werden.

Als Selbstständiger eine kleinere Büroeinheit zu mieten, die zugleich in eine gewisse Infrastruktur eingebettet ist, ist gar nicht so einfach - auch in Stuttgart nicht - und schon gar nicht mitten in der Stadt.

Kein Wunder also, dass die Räume im Erdgeschoss schon bald vermietet waren und Raum-auf-Zeit in die nächste Etage expandierte.

Das Gebäude war damit aber längst nicht ausgelastet. So fanden einige Fakultäten der Universität Stuttgart hier Asyl, als ab 2007 das Kollegiengebäude II saniert wurde. Auch die damalige Berufsakademie - heute heißt sie "Duale Hochschule Baden-Württemberg" - war schon übergangsweise mit einigen Studiengängen hier untergebracht.

Das war die Zeit, in der die Mieter des H7 immer wieder verirrten Studentinnen und Studenten weiterhelfen mussten.

Wer aber sind denn nun die Mieterinnen und Mieter im H7?

Einen hübschen Begriff, für das, was sich hier im H7 niedergelassen hat, verwendet die Wirtschaftsförderung der Stadt Stuttgart, nämlich: "Kreativwirtschaft".

Was darunter zu verstehen ist, finden Sie auf der Internetseite der Stadt definiert - und zwar in schönstem Beamtendeutsch:

"Die Kreativwirtschaft besteht aus Unternehmen, die sich auf erwerbswirtschaftlicher Basis mit der künstlerischen und kreativen Produktion, ihrer Vermittlung und der medialen Verbreitung von entsprechenden Gütern und Dienstleistungen befassen."

Und dann listet die Wirtschaftsförderung auf:

"Zur Kreativwirtschaft in der Landeshauptstadt zählen wir die folgenden Branchen:

Architektur
Design & Fotografie
Event-Management
Film, Fernsehen, Hörfunk
IT
Werbung, PR, Journalismus
Musik
Verlage"

Tatsächlich sind alle diese Branchen im H7 vertreten - aber noch einige mehr, zum Beispiel IlustratorInnen, bildende KünstlerInnen, ModemacherInnen, ein Friseursalon, Künsterbedarf, eine Carsharingagentur und sogar psychologische Beratung.

Nun legt ja die Bezeichnung "Existenzgründerzentrum" die Vermutung nahe, dass es sich hier durchweg um junge Berufsanfänger handle. In Wirklichkeit gibt es hier sowohl "Starter" als auch Firmen, die sich bereits - oder inzwischen - auf dem Markt etabliert haben.

Zu den arrivierten Unternehmen gehört zum Beispiel LAVA - übersetzt: Laboratorium für visionäre Architektur. Unter der Leitung von Tobias Wallisser und Alexander Rieck hat der europäische Zweig von LAVA hier seinen Sitz.
Aber auch, wenn Sie als Kundin oder Kunde nicht gleich ein Mercedes Museum hier in Auftrag geben möchten, werden Sie im H7 fündig. Wer von Ihnen am Samstag den Tag der offenen Tür genutzt hat, wird selbst gesehen haben, wie breit die Angebotspalette ist.

Angenommen, zum Beispiel Sie möchten heiraten: praktisch alles, was Sie brauchen, finden Sie hier:

Fangen wir mit den Eheringen an - die gibt’s bei "Fingerglück".
Einkleiden lassen Sie sich im Brautstudio Calla, frisieren in der "Haarfiliale".
Bei "Typolade" bekommen Sie die Namen Ihrer Gäste in Schokobuchstaben, und die Getränke liefert "Spritmobil".
Außerdem können Sie hier engagieren: Fotografen, Redenschreiber, Musiker und DJs.
Oder - Sie überlassen gleich alles einer Event-Agentur.

In einem ganz besonderen Sinne auf Events spezialisiert ist eine Institution, die Sie alle kennen, nämlich flügel.tv. Hier im H7 startete flügel.tv mit einer auf den Nordflügel gerichteten Webcam.

Wenn man nun die Mieter fragt, was sie hier besonders schätzen, bekommt man immer wieder zur Antwort: die zentrale Lage, die bezahlbare Miete, auch die gute Branchenmischung und das kollegiale Miteinander. Ein eigenes Atelier haben, aber mal schnell auf einen Kaffee ins Nachbarbüro rüber - so wünscht man sich hier das Arbeiten und so entstehen auch Kooperationen und neue Geschäftsverbindungen.

Natürlich rühmen die Mieter auch das Gebäude. Dem einen imponieren Fassade und Eingangsbereich, der nächste nutzt das obere Foyer gern als Fotostudio, weil das Licht dort gut sei und wieder einen anderen fasziniert das Labyrinth der Flure und Treppen.

Anfangs, als noch nicht alle Türen abgeschlossen waren, gingen einige Neugierige auf Entdeckungstour. Ein-, zwei mal war ich selbst mit dabei - und es war wirklich ein Abenteuer! Ganz oben befindet sich der Kantinensaal. Der hat eine durchgehende Glasfront mit grandiosem Blick auf Nordausgang und - damals auch noch - Nordflügel!

Entdeckungen konnte man im H7 aber nicht nur in luftiger Höhe machen sondern auch unten in den Katakomben. Da standen in alten Regalen noch Aktenordner von anno Tobak, in denen man zum Beispiel nachlesen konnte, wann wo irgendwelche Reparaturarbeiten durchgeführt wurden.
Ebenfalls im Untergeschoss - das berichtet ein Grafiker, dessen Vater hier ausgebildet wurde - habe früher ein Ungetüm von einem Steinzeit-Rechnersystem gleich mehrere Räume belegt.

Ein Fotograf - bei ihm war es der Onkel, der hier arbeitete - erzählt, er sei als Kind regelmäßig hier gewesen und jedes Mal mit Begeisterung ein paar Runden Paternoster gefahren. Den hat uns Herr Bongartz ja am Samstag vorgestellt.

Besonderen Charme haben natürlich die Räume, an denen man heute noch ihre frühere Funktion ablesen kann. Es gibt zum Beispiel, zwischen zwei Fluren eingeklemmt, also ohne Fenster, die Tresor- und Kassenräume. Da holten sich früher die Bahnmitarbeiter ihre Lohntüten ab. Heute schmunzelt man natürlich über die altertümliche Tresormechnik, aber einen Rest von Respekt flößt sie einem doch ein. Mit dieser Wirkung hatten drei Ausstellungsmacher gespielt, als sie in den Räumen Veranstaltungen unter dem Motto "flüchtige Kunst" organisierten. Das waren vergängliche, nichtpermanente Kunstformen und passend dazu war auch die Dauer dieser Veranstaltungsreihe begrenzt. Im Herbst 2009 war damit Schluss, und bald liefen auch die von Anfang an befristeten Mietverträge der Raum-auf-Zeit-Mieter aus.

Seitdem gibt es zwar noch scheibchenweise Verlängerung, aber irgendwann wird die Karawane weiterziehen und wieder ein neues Umfeld beleben. Übrigens ganz unabhängig von Stuttgart 21, denn als Dauernutzer müsste man in dieser Lage wohl mit ganz anderen Mieten rechnen.

Der Eisenbahndirektion aber wünsche ich, dass sie bleibt, dass sie unangetastet bleibt - damit in Zukunft noch jemand sagen kann: "Hier hat mal mein Großvater gearbeitet!"

Und deshalb natürlich: Oben bleiben!