Ansprache von Wolfgang Voigt, Deutsches Architekturmuseum Frankfurt zum 5. Plädoyer für den Südflügel am 8. August 2011

Liebe Freunde des Stuttgarter Hauptbahnhofs,

Sie haben mich eingeladen, ein Plädoyer für den Südflügel abzugeben. Ich empfinde es als eine Ehre, hier in dieser Sache öffentlich an einem Montag sprechen zu dürfen. Und dies zum zweiten Mal!

Es ist ja einiges los im Moment: Zuerst gab es die Präsentation des Stresstests. Da ist viel vom Fahrplan gesprochen worden, zuletzt nur noch davon, ob der geplante unterirdische Bahnhof in den Spitzenstunden eine bestimmte Anzahl von Zügen aufnehmen kann oder nicht. Dann kam Herr Geißler mit seinem Vorschlag. Die Bahn fand es richtig, statt einer Prüfung gleich mit dem Kopf durch die Wand zu gehen und eine Dreiviertel Milliarde an Aufträgen für S 21 zu vergeben.

Eine ungelöste Frage ist dabei zu kurz gekommen. Vom Gebäude des Hauptbahnhofs von Paul Bonatz, davon, was von ihm in zehn oder zwanzig Jahren noch übrig sein wird, ist wenig bis gar nicht mehr die Rede gewesen.

Deshalb ist es gut, dass Sie, die „Architektinnen und Architekten für K 21“ diesen Faden wieder aufgenommen haben. Indem Sie Woche für Woche ein Plädoyer für den Südflügel veranstalten, haben Sie auch die Zukunft des gefährdeten Kulturdenkmals wieder auf die Tagesordnung gebracht. Dieses Kulturdenkmal ist nach wie vor gefährdet! Die Dinge sind im Fluss, aber machen wir uns nichts vor, Stuttgart 21, dieser Saurier aus einer Kultur des hypertrophen Planens, von der man gehofft hat, dass sie vorbei ist, ist alles andere als vom Tisch.

Vor genau hundert Jahren, im Jahre 1911, fand der Architektenwettbewerb statt, den Paul Bonatz damals gewann. Vor fast neunzig Jahren, im Oktober 1922, wurde der Bahnhof, genauer gesagt, der erste Bauabschnitt, dem Verkehr übergeben. Seit dieser Zeit funktioniert der Bau hervorragend, obwohl er nicht im besten Zustand ist. Denn die Bahn vernachlässigt ihn seit langem und tut dies durch Desinvestition gezielt, um die Leute glauben zu lassen, dass der Kopfbahnhof alt und überholt sei und die Zukunft nur im Neubauprojekt liegen kann.

Hunderttausende von Menschen, die den Bahnhof immer wieder benutzen, wissen es besser als die Planer der Bahn. Wahrscheinlich gibt es kein anderes Gebäude, dass so viele Menschen der Region von innen und außen kennen. Sie alle leben mit diesem Bau, der den Verkehr in einer Abfolge großer Hallen wie auf einer Theaterbühne dramatisch inszeniert, so dass das Ankommen und Wegfahren immer ein Erlebnis ist.

Denn ausser dem guten Funktionieren hat er Monumentalität und Pathos, und er ist besser als jeder andere vergleichbare zentrale Bahnhof in Deutschland mit der umgebenden Stadt optimal verzahnt. Die Schalterhallen mit ihren großen Portalen, der aus der Königstraße heraus sichtbare Turm – alles steht an der richtigen Stelle, und die Komposition des Ganzen ist perfekt ausbalanciert. Dieses Gleichgewicht wird durch den Abriss der Flügel zerstört. In den 1980er Jahren ist der Bahnhof aus guten Gründen zum Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung erklärt worden. Heute wird dasselbe Kulturdenkmal durch Abbruch der Flügel amputiert. Kunsthistoriker, Architekturhistoriker, Denkmalpfleger aus dem Inund Ausland, die besten Vertreter ihres Faches, haben dagegen öffentlich protestiert.

Wenn die Verantwortlichen, denen die Flügelbauten nur lästige Hindernisse für den unterirdischen Neubau sind, wenn diese behaupten, sie hätten dafür sogar die Zustimmung der Denkmalpflege, dann sagen sie nur die halbe Wahrheit. Was sie haben, ist nur die Zustimmung der vorgesetzten Behörde, nicht die der beamteten Fachleute. Schon vor zwölf Jahren, noch vor dem Architektenwettbewerb von 1998, der den unterirdischen Bahnhof hervorbrachte, wurden die Denkmalpfleger mit diskreten Verwaltungsakten zum Schweigen gebracht. Man kann es auch einen Maulkorb nennen.

Verantwortlich war die jetzt abgewählte Landesregierung und eine von ihr abhängige Behörde, das Regierungspräsidiium, der das zuständige Denkmalamt unterstellt gewesen ist. Die Denkmalpflege steht in BadenWürttemberg unter keinem glücklichen Stern. Um mit ihr eine manchmal störende Behörde zu schwächen, hat die Politik ihre zentrale Instanz, das Landesdenkmalamt, schon vor Jahren abgeschafft. Man wollte eine bequeme Denkmalpflege, die man „nach Bedarf“ benutzt oder ihr den Mund verbietet. Das war das Werk der abgewählten Landesregierung.

Dieses schlechte Beispiel ist dabei, anderswo kopiert zu werden: In SchleswigHolstein ist dieselbe Koalition, die Sie abgewählt haben, im Begriff, ihre Denkmalpflege nach dem Stuttgarter Vorbild zu zerschlagen. Sorgen Sie dafür, dass der Schutz der Kulturdenkmäler wenigstens in BadenWürttemberg wieder ernst genommen wird. Nehmen Sie die Regierung, die Sie gewählt haben, in die Pflicht. Fordern sie die Umkehr, fordern Sie die Stärkung der Denkmalpflege und ihrer Instanzen.

Sorgen Sie dafür, dass die neue Landesregierung die Proteste aus den Inund Ausland ernst nimmt, und dass die Vorgänge, die die Kollegen in der Frage des unterirdischen Bahnhofs an der Äußerung eines unabhängigen Urteils gehindert haben, offen gelegt werden.

Fordern Sie von ihrer neuen Landesregierung, dass die Denkmalpfleger, also ihre eigenen Fachleute, eine von politischer Pression unabhängige neue Bewertung verfassen können und das diese dann nicht ignoriert wird, sondern in den politischen Prozess eingehen kann.

In diese neue Bewertung könnten dann auch die Ergebnisse der neuen architekturgeschichtlichen Forschung eingehen, die mit der großen PaulBonatzAusstellung des Deutschen Architekturmuseums verbunden gewesen sind. Wir wissen heute erheblich mehr über die Vorbilder, die auf den Entwurf des Bonatzschen Bahnhofs eingewirkt haben. Auch die Ausstrahlung, die dieser Bau in den 1920er und 1930er Jahren hatte, sagt etwas über die Bedeutung des Kulturdenkmals.

Der neue Hauptbahnhof ist damals als der moderne Bahnhof schlechthin angesehen worden. Seine Formen waren neu und ungewohnt, genauso wie seine mächtigen Baumassen, es war bis dahin der mit Abstand größte Bau in Stuttgart. Die flachen Dächer und die würfelförmigen Volumen waren Zeichen der frühen modernen Architektur. Der Bahnhof war gleichzeitig funktional wie monumental, das wurde vor 90 Jahren noch nicht als Gegensatz gesehen.

Über die Herkunft der Bauform hat Paul Bonatz schon vor 60 Jahren in seinen Erinnerungen eine Andeutung gemacht und dabei zwei Gegenden am Mittelmeer benannt. Bonatz war weltoffen und wissbegierig und investierte seine frühen Honorare in Reisen, die meistens ans Mittelmeer gingen. Über Sizilien und Ägypten, wo er nacheinander gewesen ist, schreibt er, dass ihm die notwendige Erkenntnis darüber, wie man Baumassen klarer und einfacher gestalten könne, in Sizilien noch fehlte, dass er es dann aber in Ägypten verstanden habe.

Aus Sizilien – das wissen wir erst seit kurzem hatte sich Bonatz für die Fassade des Wettbewerbsentwurfs anregen lassen. Sehen sie sich den Südflügel an: Wo heute die dreigeschossigen Rücksprünge in der Wand, die sogenannten negativen Lisenen, die Gliederung bilden, sollte 1911 eine dreigeschossige Ordnung mit dorischen Halbsäulen stehen, wobei sich immer eine Säule mit einer Fensterachse abwechseln sollte. Diese Form hatte Bonatz an einer Tempelruine in Agrigento in Sizilien vorgefunden, für die sich schon die Architekten des Klassizismus, zum Beispiel Leo von Klenze aus München, stark interessierten. Bei diesem Tempel des olympischen Zeus, einer der größten der Antike, gab es an den Außenseiten keine freistehenden Säulen, sondern ringsum Wände mit vorstehenden Halbsäulen. Genauso dachte sich Bonatz noch 1911 den Hauptbahnhof.

Nach dem Wettbewerb und während der Planung der endgültigen Fassung reiste Bonatz 1913 nach Ägypten. Bisher glaubte man an einen Impuls aus Sakkara, wo es diese altägyptische Stufenpyramide gibt, von der jeder schon einmal eine Abbildung gesehen hat. Dort steht noch eine Palastmauer, die durch ebensolche senkrechte Wandnischen gegliedert ist wie der Südflügel; und deshalb ist im Zusammenhang mit dem Bahnhof viel vom „SakkaraMotiv“ gesprochen wirden. Was genau die Anregung für Stuttgart gab, behielt Bonatz aber für sich.

Seit der BonatzAusstellung wissen wir, dass er sich nicht nur für die Architektur der Pharaonen interessierte. Offenbar viel mehr reizte ihn aber eine Moschee in Kairo aus dem 14. Jahrhundert, zu der er Tag für Tag immer wieder hingegangen ist, was wir genau wissen, weil er Skizzen zeichnete und diese datiert hat. Dieselben Wandnischen wie in Sakkara gab es nämlich auch an dieser SultanHassanMoschee, und Bonatz hat sie immer wieder gezeichnet. Diese Wandnischen, die Fachleute sprechen von „negativen Lisenen“, geben dem Südflügel, der mit seinen 277 Metern ja viel länger ist als die nach Westen gerichtete Hauptfront, seine Gliederung. Von derselben Moschee stammen auch die Fassaden der beiden Schalterhallen mit ihren großen Rundbogenöffnungen.

Es gibt noch mehr Details am Hauptbahnhof, die an Orte erinnern, an denen Bonatz ein AhaErlebnis hatte. In der kleinen Schalterhalle gibt es diese Wände aus abwechselnden Lagen von roten Ziegeln und gelblichem Naturstein; so kannte es Bonatz an der 1600 Jahre alten byzantinischen Stadtmauer von Istanbul, wohin er 1916 hatte reisen können. Schließlich noch der Turm – einen solchen, beinahe ungegliederten kubischen Turm mit quadratischem Grundriss und flachem Abschluss hatte Bonatz an den mittelalterlichen Festungsanlagen von Verona in Oberitalien gesehen.

Aber alle diese Anregungen wurden nicht einfach eklektisch verwendet, heute würde man sagen: nach der Methode Copy and Paste. Der Bonatzsche Bahnhof steht an der Schwelle zwischen Historismus und Moderne. Was Bonatz von fernen Orten mitbrachte, wurde nicht im Sinne einer historischen Stilübung detailgetreu benutzt, sondern in etwas Neues transformiert und integriert, so dass es nicht ohne weiteres möglich ist, die Quelle zu erkennen.

Der Bonatzsche Bahnhof hatte auch eine bemerkenswerte Ausstrahlung. Es gibt viele Bahnhöfe der 1920er und 1930er Jahre, und nicht nur in Deutschland, die sich an seinen Formen orientierten. Die interessanteste Wirkung hatte er im Sakralbau. Denn es finden sich, gerade in den 1920er Jahren, manche Kirchen der frühen Moderne, die aussehen, als hätte man die große Schalterhalle aus dem Ensemble des Hauptbahnhofs herausgelöst. Die Schalterhalle als Kirche! Architekten wie Hans Herkommer hier aus Stuttgart und der berühmte Dominikus Böhm haben entsprechende Kirchen in Leverkusen, Frankfurt und Mönchengladbach gebaut, die ihrerseits längst als Kulturdenkmale geschützt sind.

Alles das wissen wir erst seit kurzem, und es ergibt sich dadurch eine bemerkenswerte Kreisbewegung: Bonatz nimmt die Form aus der Welt des Islam, aus einer Moschee in Kairo, und überträgt sie auf seinen Bahnhof, eine profane Bauaufgabe. Und wenig später wandert die Form seiner Schalterhalle zurück ins Sakrale.

Jetzt noch ein paar Worte zum Südflügel. Es gibt diese Argumentation der Betreiber von Stuttgart 21, der Bahnhof hätte einen architektonischen Kern, bestehend aus dem Ensemble am ArnulfKlettPlatz, bestehend aus den beiden Schalterhallen, der Arkade zwischen ihnen, aus der großen Querhalle und dem Turm. Die Flügel seien eine Nebensache, die man ohne Schaden wegnehmen könne. Lassen Sie sich nicht einreden, der Südflügel hätte heute keine Funktion mehr, weil man die Stadt nicht mehr vom Rauch der Lokomotiven abschirmen muss. Die Flügel sind und bleiben ein Teil des Organismus Hauptbahnhof und des Kulturdenkmals.

Selbst nachdem die Bahn ausgezogen ist – es ist immobilientechnisch wertvollster Raum in bester Lage, Nutzungen werden sich immer finden. Der Nordflügel ist schon weg, der Südflügel wird ebenfalls verschwinden, wenn die Bahn sich durchsetzt. Der Abbruch zerstört die architektonische Komposition, der Bau wird dann endgültig zum amputierten Krüppel. Der Südflügel gibt dem Schlossgarten einen würdigen Abschluss, und dabei sollte es bleiben.

Nun gibt es neuerdings den Kompromissvorschlag von Heiner Geissler und SMA. Der halte auch ich für interessant, er sollte von allen Beteiligten vorurteilsfrei geprüft werden – nicht nur, weil er ohne weitere Verstümmelung des BonatzBahnhofs auskommen würde. Bleiben Sie fest, geben Sie nicht auf: Hände weg vom Südflügel!