Die Position des Deutschen Werkbundes Baden-Württemberg

Die Position des Deutschen Werkbundes Baden-Württemberg zum Projekt Stuttgart 21 ENTWURF 30.10.06

Positionspapier des DWB - BW zu Stuttgart 21

1.  Anlass - wir wollen verantwortungsvolles Nachdenken und ehrliche Offenheit anregen

In den Wochen vor dem Gesprächstermin in Berlin am 23. Oktober 2006 war festzustellen, dass die Seite der Befürworter dieses Projektes, mit massiver Unterstützung der Stuttgarter Presse, ein vollkommen einseitig überzeichnet positives Bild in der Öffentlichkeit propagierten. Diese positive Überzeichnung machte noch nicht einmal vor einer sogenannten „Umfrage", mit tendenziellen Fragestellungen, oder absichtlich falsch gezeichneten Bild-Darstellungen des geplanten Bahnhof-Bauwerkes in der Tagespresse halt.

Der Bürger sollte offensichtlich mit gezielten Täuschungsmanövern und ohne die Spur eines einzigen Darstellungsversuches der faktisch mit Stuttgart 21 verbundenen Risiken nach allen Regeln der Kunst eingelullt werden.

Der Vorstand des Deutschen Werkbundes Baden-Württemberg hat ein gewisses Verständnis dafür, dass die politischen Befürworter nach der jahrelangen, sündteuren Hängepartie unter Druck stehen und endlich Erfolg sehen wollen. Absolut kein Verständnis besteht jedoch für die bewusste Vorenthaltung von wichtigen Fakten und der damit verbundenen Desinformation der Steuerzahler durch die von ihnen gewählten, politischen Vertreter. So weit darf die Pflicht zur umfassenden Aufklärung in einer Demokratie niemals verbogen werden, wenn diese glaubwürdig sein will.

Aus diesem Grunde sehen wir uns veranlasst, dieses Positionspapier in die Waagschale der öffentlichen Diskussion zu legen.

2.   Verkehr auf der Schiene - er muss verknüpft werden, um intelligenter und leistungsfähiger zu werden

Der Vorstand des DWB ist der Überzeugung, dass der Schienenverkehr ein besonders wichtiger Aspekt zukünftiger, umweltbewusster Mobilität ist und dass schnelle interregionale und internationale Verbindungen die Bahn attraktiv machen.

Ebenso ist der städtische oder regionale Verkehr auf der Schiene eine Notwendigkeit, die bestmöglich entwickelt werden müsste.

In Stuttgart ist die Bahn schon immer nach allen Himmelsrichtungen international angebunden und der Orientexpress Paris Est - Konstantinopel hatte immer einen Halt in Stuttgart. Dieser Anschluss muss nicht erst neu geschaffen werden - hier wird bewusst getäuscht. Allerdings ist die Weiterführung der Bahnstrecke von Stuttgart nach München schon seit vielen Jahren dringend verbesserungsbedürftig, sie muss schnellstens schneller werden. Die sachlich nicht bedingte Koppelung zwischen Schnellbahnstrecke München und Tiefbahnhof - Filder-bahnhof verhindert diesen Ausbau leider bis heute - ein schweres Versäumnis der Politik.

Der interregionale, regionale und städtische Schienen Verkehr ist bereits vorhanden, dagegen die sinnvolle Verknüpfung von Regional- und Stadtverkehr auf der Schiene mangelhaft bis nicht existent. Das beweisen die täglichen Superstaus auf den Straßen um Stuttgart, die zeigen dass die bestehenden Regional- und S-Bahnverbindungen entweder an den Wohnorten in der Region und/oder den Arbeitsstätten in Stuttgart so mangelhaft angebunden sind, dass die Pendler den täglichen Autostress bevorzugen - auch deshalb, weil es in Stuttgart wohl noch genügend Parkmöglichkeiten gibt, die den Autoverkehr geradezu anziehen.

Schaut man auf die Stadt Karlsruhe, dann darf man sich sehr wundern. In Stuttgart gibt es Stadtbahnen, die das Aussehen und die Spurbreite von DB Bahnen haben und deren Haltestellen eher nach Anlagen für die Landesverteidigung aussehen welche zwischen den fast unüberwindlichen, wenig befahrenen, Trassenschneisen in der Stadt angelegt wurden. Die Stadtbahnen nutzen ihre Potenz aber nicht und fahren gar nicht auf den Strecken und in das Umland, für das sie so breit und groß gemacht wurden.

In Karlsruhe dagegen sieht man oberirdisch und in dichter Folge vergleichsweise „zierliche" Straßenbahnen", die unter Benutzung der Bahnstrecken den gesamten Raum Karlsruhe, Mannheim, Heilbronn, Baden-Baden und Rastatt, jeweils von Innenstadt zu Innenstadt, teilweise mit oberirdischem Rundverkehr in diesen Städten, hervorragend verknüpfen.

In Stuttgart fährt die aufwändig untertage verlegte Stadtbahn noch nicht einmal von der Stadtmitte zum Flughafen und zur neuen Messe. Leonberg, Ludwigsburg, Esslingen, Ruit, Neilingen, Sindelfingen, Böblingen, Pforzheim, Schwäbisch Gmünd, Backnang, Reutlingen, Tübingen etc. etc. sind mit der Stadtbahn nicht erreichbar, obwohl das Karlsruher Modell schon vor Einführung der Stadtbahn bestand und erfolgreich war - man hätte es sogar kopieren und damit viel vom täglichen Stauverkehr beseitigen können - man muss es nur wollen.

In Stuttgart muss also tatsächlich noch sehr viel für die Verbesserung des Schienenverkehrs getan werden - besonders wenn es um die sinnvolle Verknüpfung von bestehenden Schienenverkehren geht und dazu werden Flächen benötigt, auf denen solche Verknüpfungen organisiert werden können. Im offiziellen Projekt Stuttgart 21 finden sich dazu aber keine Ansätze, die vorhandenen Flächen werden unbedacht verkauft und zugebaut und solche Denkansätze der Begeisterung für das Tunnelbohren kurzsichtig geopfert.

3.   Warum denken wir noch nicht an die Verknüpfung Schiene - KFZ Verkehr?

Stuttgart 21 denkt zwar an die Verknüpfung von Flugzeug - Schiene, aber noch nicht konsequent genug, denn solange der Fluggast nicht auf der Fahrt zum Flughafen abgefertigt wird, gewinnen wir dadurch nicht wirklich etwas. An das näherliegende Modell Schiene - KFZ Verkehr wird überhaupt nicht gedacht.

Jede Fahrt auf der Autobahn zeigt, dass diese Verkehrsart nahe ihrem endgültigen Ende ist. Staus sind nicht wirtschaftlich, sie kosten wertvolle Nervenkraft und stehende LKW können auch nicht mehr liefern. Andererseits steigt das Transportaufkommen ständig, unsere Wirtschaftsweise macht dies erforderlich.

Sowohl für den privaten Bedarf als auch für das Liefervolumen sollte deshalb doch dringend darüber nachgedacht werden, ob nicht eine intelligente, mit kleinen, aber mit vielen Einheiten und häufig operierende Verknüpfung von Schiene und Straße besonders auch auf lange Distanzen eine wünschenswerte Verbesserung darstellen könnte.

Zum Beispiel mit dem Smart quer auf den Doppelgeschoss ICE unten auffahren und darüber die Fahrt nach Hamburg genießen um danach in Hamburg mit dem Smart in der Stadt beweglich zu sein.

Oder mit entsprechend kleinen Containern denselben ICE unten quer beladen um an der Destination mit dem kleinen City LKW den Lieferverkehr bis in die Region zu leisten. Solche und ähnliche Modelle sind sinnvoll und sie sind notwendige zur Abwendung des Mobilitätskollapses - sie brauchen aber auch oberirdische Aktionsflächen, die den nötigen Raum bieten - unterirdische Anlagen sind in höchstem Maße kontraproduktiv für neue Chancen.

4.   Der Bahnhof - das technisch Machbare ist oft nicht das Wünschenswerte

Heute hat der Stuttgarter Kopfbahnhof 16 Geleise. Er ist ziemlich heruntergekommen und offensichtlich sanierungsbedürftig. Kein Zweifel. Wir wollen uns in unserer Stellungnahme bewusst nicht an der Bahn-Fach-Streiterei um seine Kapazität im Vergleich zum achtgleisigen Durchgangsbahnhof, um Minutenverluste auf der Durchfahrt durch Stuttgart etc. etc. beteiligen.

Uns bewegt die Frage, ob es überhaupt sinnvoll und wünschenswert sein kann, den heutigen Bahnhof durch einen halbtief gelegten Durchgangsbahnhof an gleicher Stelle zu ersetzen. Und diese Frage kann keinesfalls mit Eisenbahn- oder Tunnelbauexpertise, auch nicht mit Projektsteuerungserfahrung, sondern nur mit verantwortungsvoller städtebaulicher, stadträumlicher, stadtkultureller, stadtorganisatorischer und stadtentwicklungsorientierter Erfahrung, Expertise und Diskussion und unter Einbeziehung gesellschaftlich-geschichtlich-emotionaler Aspekte der in Stuttgart lebenden und arbeitenden Bevölkerung beantwortet werden.

Ohne auf Einzelheiten eingehen zu müssen, können wir feststellen, dass diese, für jedes Großprojekt notwendigen Aspekte und Diskussionen beim Tiefbahnhof 21 in all den Jahren planvoll versäumt wurden. Denn gleich zu Beginn wurde die ausschließlich bahntechnisch-bautechnisch, von rein technischer Machbarkeit verleitete Vision ihres Schöpfers Prof. Heimerl ohne jede kritische Würdigung in den Status des „Sinnvollen und Wünschenswerten" und auf das ehrgeizig - politische Schild gehoben.

Ein schwerwiegender und bereits 300 Mio. Euro teurer Fehler, welcher der eigentliche Grund für die Hängepartie und für die derzeit aufgeheizte Situation ist. Langjährige Erfahrung mit den „technisch machbaren Lösungen" zeigen, dass diese eben nicht automatisch als wirklicher Fortschritt bezeichnet werden können - meist schaffen sie mehr neue Probleme, als dass sie alte lösen können.

Auch ist weithin bekannt, dass nur solche Lösungen in einer Stadt nachhaltig verwirklicht werden können und Bestand haben, die dem Eigenimage einer Stadt und ihrer Bevölkerung entsprechen und emotional angenommen sind - alles andere ist mittelfristig zum Scheitern verurteilt. Diese wichtige Voraussetzung ist in Stuttgart beim Tiefbahnhof eindeutig nicht gegeben.

Der Kopfbahnhof bedient heute schon alle die Strecken, die der Tiefbahnhof auch bedienen würde (sogar neue Messe und Flughafen). Ein Durchgangsbahnhof wäre an anderer Stelle viel leichter und auch mit allen Anschlüssen machbar. Die jetzt freigeräumten Flächen am Bahnhof könnten zukünftig wichtige „Verknüpfungsflächen" für verschiedene Verkehrsarten (Schiene-Schiene, Schiene-KFZ) werden - die Möglichkeiten bleiben offen.

Warum also exponiert sich die Politik ausgerechnet auf eine Lösung, welche nach eigener Erkenntnis die weitaus teuerste, die am wenigsten flexible und zukünftig veränderbare, die wegen der Mineralquellen halbherzigste und die für das Stadtklima und Luftreinheit, sprich Lebensqualität, eindeutig gefährlichste Lösung für die Innenstadt ist?

Die Befürworter behaupten, dass die Gegner ihre umfassenden kritischen Argumente nicht beweisen könnten. Die Gegner sind der Meinung, dass die Befürworter noch nicht einmal ihre wenigen, nur scheinbar fachlich und Kosten-Nutzen orientierten Argumente dafür beweisen können. Die Entscheidung in Berlin lässt vermuten, dass der Nachweis einer wie auch immer gearteten „Wirtschaftlichkeit" bisher tatsächlich nicht überzeugend geführt werden konnte.

In dieser Situation gibt es nach unserer Meinung nur eine Möglichkeit: Unwägbare Risiken, die mit diesem Tiefbauprojekt auch nach Erkenntnissen der Befürworter unzweifelhaft verbunden, aber vielleicht noch nicht bis in das letzte Detail bekannt und deshalb auch nicht sicher handhabbar sind, vermeidet man dadurch, dass man sie gar nicht erst eingeht.

Der Stuttgarter Kopfbahnhof könnte doch einfach saniert und intelligent so verändert werden, dass der Schienenverkehr, besonders in der Stadt und Region wirklich noch verbessert wird. Dabei ist der geschätzte, geringe Zeitgewinn für Durchreisende für die Stadt und die Befindlichkeit ihrer Bürger weniger wichtig, wie die Einsparung von Milliarden von Euro nur für den Tunnelbau (besser angelegt z.B. in den Schulen und Kindergärten der Stadt) und der endgültige Verlust von zukünftigen Möglichkeiten, sobald der Bahnhof wie ein Sarkophag in der Erde liegt und die darüber befindlichen Flächen bebaut sind. Gräber werden ja nur sehr selten umgebaut!

5.   Die geplanten, neuen Stadtflächen auf dem jetzigen Bahnhofsareal - für jeden Investor zu teuer

Das Projekt wurde ganz ursprünglich von der DB Immobilien gestartet, die sich mit ähnlichen Projekten in Stuttgart, München, Mannheim und Frankfurt einen gigantischen Gewinn aus Immobilien in städtischen Zentrumslagen ausgerechnet hatte. Die anderen Städte haben dieses Ansinnen durchschaut und sofort begriffen, dass Immobilienspekulationen der DB mit Stadtentwicklung nichts zu tun haben, sie eher komplizierter machen und Chancen zerstören. In Stuttgart hat man sich von der fadenscheinigen Argumentation der DB über die großen Chancen, die dieses Projekt innehabe, unverständlicher Weise blenden lassen.

Seitdem das Projekt Stuttgart 21 geboren wurde, versuchen Stadt, Land und Bahn intensiv die freiwerdenden Flächen am Bahnhof zu vermarkten - bisher ohne jeden Erfolg. Dies obwohl die Landesbank Baden-Württemberg inzwischen zum Anreiz an Andere ein neues Verwaltungsgebäude (mit Glasturm) erstellt und obwohl die Stadt unverständlicher Weise dem privaten Unternehmen Bahn umfangreiche Flächen zur Senkung des DB Risikos bereits abgekauft hat und nun weitere Flächen aus selber Unvernunft mit Steuermitteln kaufen will.

Dieser Misserfolg macht die Problematik des Projektes deutlich. Alle angesprochenen, seriösen Investoren haben durchschaut, dass

Die angebotenen Flächen für jede Art von Wohnungsbau viel zu teuer sind und nur sehr mangelhafte Wohnqualität bieten. Wohnungsbau lässt sich nach unseren eigenen Berechnungen dort finanziell niemals verwirklichen

Die Flächen für Büro- und Gewerbeflächen ebenfalls zu teuer sind und an die bisherigen Verkehrsströme nur mangelhaft angebunden werden können

Auf der Fläche hinter dem Bahnhof ein Stadtbereich entstehen würde, welcher im ungleichen Wettstreit mit der Innenstadt Stuttgarts stände, weil diese sich nach des Bekanntgabe des Projektes Stuttgart 21 deutlich spürbar entwickelt hat und der neue Stadtteil auch an die Innenstadt nur schwerfällig und vollkommen unattraktiv anzubinden wäre. Dafür sorgt auch der 8 Meter hohe Riegel, der durch den in Wahrheit nur halbtief gebauten Tiefbahnhof (wegen der Quellhorizonte) gegenüber der Stadt ein kaum überwindbares Fußgängerhindernis entstehen würde.

Schon durch den monströsen Neubau der LBBW direkt neben dem Bahnhof ist dieses Gebiet mit einer Nutzung „gebrandmarkt" worden, die für innerstädtisches Leben nun keinen Nährboden mehr abgeben kann. Solche Großbanken sind nun einfach einmal kein Bestandteil eines attraktiv belebten, kleinteiligen Stadtgefüges - sie strahlen eher den kalten Charme einer falsch platzierten, im falschen Maßstab gebauten „Bedürfnisanstalt" aus.

Es mag noch andere Gründe im Detail geben, wichtig zu wissen ist, dass bisher alle angesprochenen Investoren entweder nie Interesse hatten oder dieses nach einiger Zeit aufgegeben haben.

Die jetzt entstandenen Diskussion, dass man auf diesen Flächen die neue Regierungszentrale errichten wolle (ohne Villa Reitzenstein und ohne Neues Schloss natürlich) zeigt die desperate Lage der Projektinitiatoren noch deutlicher und sie birgt neue Risiken für die Stadt und die Steuerzahler.

Erstens würden die in der Innenstadt Stuttgart freiwerdenden, bisher von Ämtern genutzten, riesigen Büroflächen den sowieso angespannten Markt für Gewerbeimmobilien weiter belasten. Zweitens bedeutet das, dass die Bürger der Stadt Stuttgart und die Steuerzahler des Landes Baden-Württemberg der privaten Firma Deutsche Bahn ihre angestrebten, erheblichen Immobiliengewinne voll finanzieren würden - das kann ja wohl weder im Sinne eines verantwortungsvollen Politikers noch im Sinne der Bürger sein. Und es passt schon gar nicht auf den Zustand der öffentlichen Haushalte, die sich wieder einmal anschicken, an der Bildung und Ausbildung, am Gesundheitswesen und an den Sorgen der Familien mit Kindern und der definitiv schon bestehenden „Unterschicht" zu sparen.

6. Die Kosten für die Tunnel - nicht seriös kalkulierbar und immer zu niedrig geschätzt

Dass Kosten für Tunnellösungen niemals genau zu bestimmen sind weiß jeder, der mit solchen Bauwerken je zu tun hat oder hatte. Dass sie (meist absichtsvoll) immer auch weit unterschätzt werden, zeigt die neueste Kostenentwicklung bei der Schweizer NEAT (Neue Europäische Alpen Transversale) von Göschenen nach Chiasso. Diese wurde bei Baubeginn vor 8 Jahren auf 12,8 Mrd. Schweizer Franken geschätzt - heute liegen die Kosten bereits bei 24 Mrd. Schweizer Franken, Tendenz weiter stark steigend. Dabei bohrt man dort im stabilen Fels der Alpen. Keuper, Knollenmergel, wasserführende Hangpartien und Thermal-Quellhorizonte werden in Stuttgart bei der jetzt schon leicht vorhersehbaren Kostensteigerung für die Tunnelbauwerke zusammenwirken. Zu behaupten, es gäbe eine sichere, abschließende Kostenberechnung für Stuttgart 21 ist Taktik der unseriösen Art. Weltweit gilt die Erfahrung dass jeder Tunnel sehr viel teurer, als ursprünglich angenommen, bezahlt werden muss und das wird im Fall Stuttgart nicht anders sein.

7. Das Stadtklima - der unverzichtbare Maßstab für Lebensqualität wird geschädigt

Stuttgart ist mit seiner Kessellage und den Klimabesonderheiten (windarme Inversionslagen) besonders negativ betroffen. Stäube und Hitzeeffekte spielen für die Gesundheit der Bewohner eine besonders negative Rolle. Stuttgart ist jetzt schon die am meisten mit Feinstaub belastete Stadt Deutschlands.

Die Stadt und die Bürger sind direkt abhängig von der Luftzufuhr über Kaltluftströme in der Nacht. Kaltluft entsteht auf Grasflächen, sie ist schwer und „fließt" die Hänge hinab, ähnlich wie Wasser. Dabei versorgt sie die „durchflossenen" Gebiete mit neuem Sauerstoff und nimmt die verschmutzte Luft mit weiter talabwärts.

Das ist in Stuttgart so und zum Glück sind noch nicht alle Hänge so verbaut, dass Kaltluft nicht mehr entstehen oder Hang abwärts gleiten und durchlüften kann. Aber sie braucht auch einen Abfluss (für den Schmutz) hinaus aus der Stadt, denn sonst wird sie zurückgestaut, wie ein Stausee mit gleichzeitig höchster Konzentration der Schadstoffe.

Der bisherige Bahnhof hat im Tal des Nesenbachs Richtung Necker schon einen Riegel gebildet, das neue Riesengebäude der LBBW hat den Riegel massiv ergänzt - am Bahnhof und auf seiner Nordseite fließt nichts mehr ab, das ist Fakt. Der neue Halbtief-Bahnhof mit seiner Gebäudeoberkante von ca. 8 Metern wurde diesen Riegel bis in der Nähe des Planetariums verlängern und damit den bisherigen Riegel zur „Talsperre" ergänzen, über und der vorbei weder die Kaltluft noch die von ihr mitgeführten , konzentrierten Luftschadstoffe jemals fließen können.

Diese Tatsache spricht für sich und jeder, der dies ignoriert und trotzdem baut handelt höchst unverantwortlich im Sinne der Gesunderhaltung der Stuttgarter Bürger im gesamten Innenstadtbereich.

Bis zum Ende der 80 iger Jahre hatte das chemische Untersuchungsamt einen in Deutschland vorbildlichen, jährlich ergänzten Luft- Qualitätenatlas der Stadt Stuttgart herausgegeben. Dieser ist auffallender Weise seit der Beginn der Diskussion um Stuttgart 21 plötzlich nicht mehr zu bekommen - ein Schelm, wer dabei Böses denkt.

8.   Die Position des Deutschen Werkbundes Baden-Württemberg

Die Zusammenfassung des kurzfristigen Aktionsprogramms, welches wir favorisieren:

Schnellbahnstrecke von Stuttgart nach München schnellstens bauen.

Die wünschenswerten städtischen Ziele nicht nach der sehr eingeschränkten technischen Sichtweise, sondern nach ganzheitlichen, interdisziplinär und menschenorientierten Gesichtspunkten bestimmen.

Zur Vermeidung der extrem hohen und nicht kalkulierbaren Risiken, speziell der finanziellen, den Tunnelbahnhof und die Tunnelstrecken streichen.

Über zukünftige Verkehrsverknüpfungen nachdenken und diese entwickeln

Danach die Struktur des zukünftigen Bahnhofs bestimmen.

Für die notwendige Über-Denkzeit bis zur Definition wirklich tragfähiger und sinnvoller städtebaulicher Ziele sollte der Kopfbahnhof belassen und entsprechend erneuert werden. Mit den bisherigen Planungskosten für Stuttgart 21 von 300 Mio. Euro hätten dabei schon vieles bewirken können.

Mit diesem Positionspapier wollen wir die Projektbefürworter des Tiefbahnhofs und der weitgehenden Bebauung aller freiwerdenden Flächen auffordern, ihre Meinung und ihre Aktionen im Sinne dieser Stellungnahme zu überprüfen und sich endlich einmal wieder vom rein individuell oder politisch geprägten Prestige- und Durchsetzungsdenken zu verabschieden.

Der Bund, das Land, die Stadt, die Bürger und die Umwelt hätten wahrlich andere und klügere Projekte verdient. Vielleicht mehr in der Art „Weißenhofsiedlung", die auch erst nach langen zähen Diskussionen der Werkbund - Initiatoren mit dem Gemeinderat zustande kam und die heute zu Recht zur Klasse „Weltkulturerbe" gehört.

Karlsruhe - Stuttgart 11.11.06

Der Vorstand des Deutschen Werkbundes Baden-Württemberg