Mittwoch, 03. August 11 um 12:31

Schummeln 21

Artikel aus der FAZ-Reihe "Fremde Federn" von Boris Palmer

Der Schweizer Gutachter SMA musste sich ziemlich winden, um der Bahn das verdiente "mangelhaft" im Stresstest für "Stuttgart 21" zu ersparen. Doch mit seinem Alternativvorschlag, der in Heiner Geißlers "Friedenspapier" dargestellt wird, holte er das umso deutlicher nach. Der Schweizer Vorschlag für einen Stuttgarter Bahnhof hat fünfzig Prozent breitere Bahnsteige, fast doppelt so viele nutzbare Gleise und ist pünktlicher und leistungsfähiger als "Stuttgart 21". Im Gegensatz zum Projekt der Bahn bieten SMA und Geißler vertaktete Anschlüsse für das ganze Land und wirklich schnelle Fahrten durch Stuttgart statt Wartezeiten im Tunnel. Das Ganze soll nach Auffassung der Schweizer auch noch mehr als eine Milliarde Euro billiger sein.

Mit einem so ausgereiften Projekt hätte die Bahn sich nicht durch den Stresstest schummeln müssen. Sie hat die Leistung des künftigen Bahnhofs um fast jenes Drittel nach oben geschraubt, das sie als Zuwachs gegenüber dem bestehenden Kopfbahnhof nachweisen sollte. Ohne diese Tricks wären nach dem Schlichterspruch weitere Gleise und Bahnsteige erforderlich geworden, um das Leistungsversprechen zu erfüllen.

Vorab veränderte die Bahn eigenmächtig die Bewertungsskala für den Test. Gefordert war "gute Betriebsqualität", also ein deutlicher Verspätungsabbau. Nach dem Testat der Gutachter kann "Stuttgart 21" das nicht. Verspätungen gehen nur leicht zurück oder steigen sogar an. Die Bahn nennt das nun "wirtschaftlich optimal" und behauptet, den Begriff "gute Betriebsqualität" kenne sie gar nicht mehr. Diese Erleichterung reichte aber noch nicht aus, um den Test zu bestehen. Im nächsten Schritt wurden zwei Ergänzungen des Projekts "Stuttgart 21" im Wert von 100 Millionen Euro gestrichen, zu deren Bau das Ergebnis der Computerberechnungen trotz Notenmanipulation eindeutig verpflichtet:

Die eingleisig geplante "Wendlinger" Verbindungskurve der Bahnstrecke aus Tübingen mit der Neubaustrecke zum Tunnelbahnhof muss laut Wirtschaftlichkeitsrechnung drei Züge pro Richtung und Stunde aufnehmen können. Der Schweizer Gutachter sagt nun eindeutig, dazu müsste die Kurve zweigleisig ausgebaut werden. Doch die Bahn zieht daraus den Schluss, einen Zug pro Stunde zu streichen und die Kurve eingleisig zu belassen.

Der geplante Stuttgarter Flughafenregionalbahnhof ist ein weiterer eingleisiger Engpass kurz vor dem Tunnelsystem. Er soll zwei Bahnsteige mit unterschiedlicher Höhe erhalten, einen für die S-Bahn und einen für die ICE- und Regionalzüge. Damit die Züge sich nicht blockieren, erlaubt die Bahn im Modell allen Zugarten, an beiden Bahnsteigen zu halten. Der Gutachter bemerkt dazu korrekt, dass dafür eine Genehmigung erforderlich ist. Die kann es aber nicht geben, weil Fahrgäste im Rollstuhl dann nie wissen würden, ob sie aus der S-Bahn überhaupt herauskommen. Die Bahn ignoriert das schlicht und vermeidet so die Konsequenz, den Bahnhof umzuplanen.

Im Tunnelbahnhof selbst müsste die Bahn zwei zusätzliche Bahnsteige und zwei zusätzliche Zulaufgleise bauen, wenn sie ein realistisches Modell erstellt hätte. Die acht Bahnsteige sollen mit 6,1 Zügen pro Stunde belegt werden. Kein deutscher Großbahnhof erreicht mehr als 4,4 Züge pro Stunde und Gleis - und das sind Bahnhöfe im dauerhaften Verspätungsstress. Auf der nur zweigleisigen ICE- Strecke vom Tunnelbahnhof nach Norden verkehrt im Modell alle 3,2 Minuten ein Zug in jeder Richtung. Auch das ein unerreichter Spitzenwert in Deutschland.

Um diese Differenzen, die technisch Welten ausmachen, zu überwinden, unterstellt die Bahn sich selbst eine Präzision, die man gerne auch nur einen Tag als Kunde erleben würde. Ein Viertel aller Züge fährt am Bahnsteig ein, bevor der vorausgehende Zug ihn verlassen hat. Ebenfalls ein Viertel fährt im Abstand von höchstens fünf Minuten am selben Bahnsteig ab. Solche Fahrpläne gibt es nirgendwo in Deutschland, denn sie setzen nahezu 100 Prozent Pünktlichkeit voraus.

Und warum funktioniert das im Modell? Hierfür sind viele einzelne Stellschrauben verantwortlich. Einige Beispiele: Die Bahn hat im Test die Pünktlichkeit nicht für die kritische Spitzenstunde, sondern über den Durchschnitt von vier Stunden gemessen. Sie hat die für Baustellen vorgesehenen Reserven im Fahrplan voll zum Abbau von Verspätungen genutzt, obwohl die Richtlinien das nicht erlauben. Und sie hat die alltäglichen Störungen von Weichen, Signalen, Oberleitungen und Zügen als "Notfälle" definiert, die im Modell nicht vorkommen, obwohl die Größe des Untersuchungsraums das erfordern würde. Der Gutachter vermerkt diese und 40 weitere Punkte akribisch und stellt fest, dass das Ergebnis deutlich schlechter ausfiele, wenn man es anders machen würde. Bei der Berechnung der Endnote lässt er aber alles außen vor, weil er sich nicht in deutsche Normen einmischen will.

Und weil das alles immer noch nicht für das "bestanden" reicht, muss die Bahn am Ende auch noch die Fahrpläne durcheinanderwerfen. Keine der Anforderungen des Landes an den Stressfahrplan kann voll erfüllt werden. Zahlreiche Anschlüsse gehen verloren, Züge fahren in absurden Abständen von 5 und dann wieder 55 Minuten in dieselbe Richtung, voll besetzte IC-Züge werden gestrichen, um je zwei kürzeren Regionalzügen Platz zu machen. Schließlich zerstört die Bahn mit dem Fahrplan auch noch die hochgepriesenen Vorteile des Durchgangsbahnhofs. Die Einfahrt der Züge erfolgt häufig wie im Kopfbahnhof mit Tempo 20 statt wie versprochen mit Tempo 80, weil am Bahnsteig noch ein Zug steht. Und die Hälfte aller Regionalzüge steht fünf bis zehn Minuten im Tunnelbahnhof, so dass dort Verspätungen abgebaut werden können. Vorbei der Traum von den schnellen Verbindungen durch Stuttgart zum Flughafen. Und schließlich muss auch noch die Pünktlichkeit der S-Bahn für den Tunnelbahnhof geopfert werden. Laut Gutachter gerät sie in einen "kritischen Bereich". Verspätungen schaukeln sich auf, und das System bricht zusammen.

Im Ergebnis heißt das: Ungeschummelt kann "Stuttgart 21" nicht mehr Züge abfertigen als der bestehende Kopfbahnhof, und der Geißlersche Kompromissvorschlag ist tatsächlich "billiger und doppelt so gut". Es würde sich lohnen, die Gutachten aus der Schweiz genauer zu studieren.

Boris Palmer (Die Grünen) ist Oberbürgermeister von Tübingen. Text: F.A.Z., 03.08.2011, Nr. 178 / Seite 8


 
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