Freitag, 21. Dezember 12

S 21 in den letzten Zügen? Brief an den Aufsichtsrat der DB AG


Betrifft: Stuttgart 21

Sehr geehrte [Damen und Herren],

der Vorstand der Deutschen Bahn hat in der vergangenen Woche den Aufsichtsrat, dem auch Sie angehören, über die zu erwartenden massiven Mehrkosten bei Stuttgart 21 informiert und Ihnen  gleichzeitig eine Aufstockung des Finanzierungsrahmens von 4,526 Milliarden auf 5,626 Milliarden Euro empfohlen. Weiter wurde ein nicht näher beziffertes, zusätzliches Kostenrisiko von 1,2 Milliarden Euro eingeräumt. Dies wurde von Ihnen zur Kenntnis genommen; eine Beratung darüber, und damit die Frage, ob der Aufsichtsrat dieser Empfehlung folgt oder nicht folgt, wurde von Herrn Kefer für Januar angekündigt.

Das Medienecho auf diese Ankündigungen war vernichtend:

"Kostenexplosion", "Offenbarungseid", "Menetekel", "Gebt der Bahn keinen Cent mehr", "Bahn zweifelt selbst an S21", "Zweifel an der Wirtschaftlichkeit von S21", "Die unendliche Suche nach den Milliarden", "Projektpartner  verstehen die Rechnung der Bahn nicht", "Bahn-Chef muss zum Rapport", "S21 gefährdet andere Bahnprojekte", "Bundestag befürchtet steigende Ticketpreise". Dies sind nur einige Schlagzeilen; sie ließen sich beliebig vermehren.

In Verbindung mit den ständigen Berichten über Zugverspätungen bzw. -ausfälle (sind an der Tagesordnung), erhebliche Mängel des Schienennetzes und bei den Bahnbrücken, Zugentgleisungen, ausbleibende ICE-Lieferungen, steigende Fahrpreise usw. ergibt dies ein Bild der Deutschen Bahn, das mit Imageschaden nur unzureichend umschrieben ist.

Dies dürfte Ihnen als Jemandem, der für das Unternehmen Deutsche Bahn Verantwortung trägt, nicht gleichgültig sein; es müsste Sie vielmehr in erheblichem Maße beunruhigen. Auf die Haftungsfrage, die sich ggfls. auch für die Mitglieder des Aufsichtsrates stellt, ist von kompetenterer Seite bereits hingewiesen worden. Wenn jetzt auch noch von der EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der verbotenen Zweckentfremdung von Steuergeldern in Milliardenhöhe durch die Deutsche Bahn eingeleitet worden ist, dann sollte dies für Sie Anlass sein, bei Stuttgart 21 endlich die Reißleine zu ziehen.

Auch wenn die Kosten, die mit 6,83 Milliarden trotz aller Beteuerungen - die hat die Öffentlichkeit bei den 4,526 Milliarden vor gut einem Jahr auch stets vernommen - längst nicht die Obergrenze sein werden, augenblicklich im Mittelpunkt der Diskussion stehen: Die eigentlichen fachlichen Kritikpunkte an Stuttgart 21, und das sollte für den Aufsichtsrat der Bahn Priorität haben, betreffen nach wie vor  Verkehrsaspekte, denn es wäre künftig nicht mit Verbesserungen, sondern überwiegend mit Verschlechterungen bei den Verkehrsverbindungen zu rechnen: 

·      die angenommene und vertraglich fixierte Leistungsfähigkeit bei Stuttgart 21 wird mit 32 Zügen deutlich unter derjenigen des Kopfbahnhofs liegen, der im heutigen Zustand bereits mind. 56 Züge in der Spitzenstunde bewältigen kann. Die in der Schlichtung vereinbarte Steigerung um 50% auf 49 Züge ist nachgewiesenermaßen niemals erreichbar.

·      ein integrierter Taktfahrplan (ITF), den die Bahn im Rahmen des "Deutschlandtaktes" anstrebt, ist zwar mit dem heutigen Kopfbahnhof mit 16 Gleisen möglich; bei Stuttgart 21 mit 8 Gleisen ist dieser nicht erreichbar.

·      die versprochene und dringend erforderliche Elektrifizierung der Südbahn von Ulm zum Bodensee scheitert aus finanziellen Gründen bis auf weiteres. Dies trifft in gleicher Weise - trotz internationaler Verpflichtungen - für den Ausbau der Rheintalstrecke zwischen Karlsruhe und Basel zu.

·      bundesweit werden wg. S21 wichtige Schienen-Ausbaumaßnahmen aus Kostengründen zur Disposition gestellt.

·      die mit dem Tiefbahnhof verbundenen vermeintlichen Zeitgewinne sind lt. einer SMA-Studie äußerst fragwürdig. In jedem Fall rechtfertigen sie keinen derartigen finanziellen Aufwand.

·      grundsätzlich in Frage zu stellen ist angesichts der Kostensteigerungen bei S21 und jenseits der sich in Luft auflösenden Renditeüberlegungen auch die Wirtschaftlichkeit der Neubaustrecke nach Ulm. Diese war bisher schon nur mit höchst zweifelhaften, nicht existierenden "Phantom-Güterzügen" scheinbar gegeben. Hier kündigt sich das nächste finanzielle Desaster an.

Entgegen den Aussagen des Vorstandes zu den massiven Mehrkosten bestehen nach wie vor erhebliche technische Risiken, die es unmöglich machen, derzeit verlässliche Aussagen über die Fertigstellung und die tatsächlichen Kosten von Stuttgart 21 zu machen. Dies betrifft

·      ganz generell die noch nicht begonnen Tunnelarbeiten

·      die Tatsache, dass von 59 Planfeststellungsverfahren lediglich ganze 9 abgeschlossen sind

·      mehrere wichtige Abschnitte, für die kein endgültiges Baurecht existiert:

·      so für den PFA 1.1 (Talquerung mit Hauptbahnhof): Hier soll die doppelte Menge an Grundwasser abgepumpt werden; das Verfahren muss wg. zahlreicher offener Fragen vor. wiederholt werden. Eine Genehmigung ist nicht absehbar.

·      über die zweite Planänderung des PFA 1.2 (Fildertunnel) ist noch nicht entschieden

·      für den PFA 1.3 (Filderbahnhof) liegt noch kein abgestimmtes Konzept vor; der Antrag auf Planfeststellung wurde noch nicht einmal eingereicht.

·      für den PFA 1.6 b (Abstellbahnhof S-Untertürkheim) liegt noch kein Planfeststellungsbeschluss vor.

·      obwohl seit Jahren die Anforderungen des Brandschutzes an das Projekt S21 bekannt sind, existiert noch immer kein genehmigungsfähiges Notfallkonzept; stattdessen wird an einzelnen Auflagen herum gefeilscht nach dem Motto "Die Bahn ist zuständig für den Eisenbahnverkehr und nicht für die Rettung von Menschenleben!" (sinngemäßes Zitat aus einer Erörterungsverhandlung zum PFA 1.2), was an Zynismus kaum zu überbieten ist

·      Eigentums-, Entschädigungs- und Enteignungsfragen i. V. mit der Untertunnelung von Privatgrundstücken sind völlig ungeklärt.

Auf die rechtlichen Risiken ist dezidiert bereits von anderer Seite hingewiesen worden. Hier sei lediglich noch einmal der Aspekt hervorgehoben werden, dass alle Planungen darauf bestehen, dass die bestehenden Gleise insgesamt aufgegeben werden. Bisher liegt für den Rückbau jedoch keine Genehmigung vor, was ein erhebliches Zeit- und Projektrisiko darstellt, das erst von den Gerichten entschieden werden muss.

Bei dieser Sachlage kann ein verantwortungsvolles Aufsichtsratsmitglied der Empfehlung des Vorstandes keinesfalls zustimmen. Fordern Sie diesen vielmehr auf, so wie dies von Herrn Kefer auf Nachfrage im Verkehrsausschuss des Bundestages bereits angedeutet wurde, wegen des unkalkulierbaren Kostenrisikos und der mangelhaften Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs das außerordentliche Kündigungsrecht wahrzunehmen und mit den Projektpartnern die Bedingungen hierfür auszuhandeln. Nur dies würde noch größeren, auch Reputations-Schaden von der Bahn und allen Beteiligten fernhalten.

Möge die Vorweihnachtszeit dazu beitragen, inne zu halten, alle Aspekte in Ruhe abzuwägen und für 2013 einen Weg der Rückbesinnung auf ein von Vernunft getragenes Handeln eröffnen.

Mit freundlichen Grüßen

 

Dipl. Ing. Frank Eberhard Scholz

Esslingen


 
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