Mittwoch, 18. Januar 12

Offener Brief zu Stuttgart 21 von Wolfgang Sternstein


Herrn
Ministerpräsident Winfried Kretschmann
Staatsministerium


Betreff: Offener Brief zu Stuttgart 21

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

In „Sonntag aktuell“ vom 15.1.2012 steht der Satz: „Kretschmann reagierte gelassen (auf die Kritik an seiner Haltung zu S21) und mahnte, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren.“ Ich gehe davon aus, dass dieser Satz zutrifft. Sollte das nicht der Fall sein, bitte ich um Richtigstellung.

Sollte er zutreffen, ist er in meinen Augen Ausdruck eines blanken Zynismus. Sie wissen  so gut wie alle sachkundigen Bürgerinnen und Bürger in dieser Stadt und im Land, dass die Volksabstimmung den Gegnern von S21 keine Chance ließ, mit Sachargumenten eine Mehrheit zu gewinnen, die ausgereicht hätte, das Quorum zu erfüllen. Der unverzeihliche Fehler der Widerstandsbewegung gegen S21 war, sich überhaupt auf dieses Verfahren eingelassen zu haben.

Das Quorum von einem Drittel Ja-Stimmen der stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger war unerreichbar, es sei denn durch ein „Kretschmann-Wunder“. Wahrscheinlich muss man katholisch sein wie Sie, um an solche Wunder zu glauben. 


S21 ist in erster Linie eine Angelegenheit der betroffenen Bevölkerung und das sind die Bürger der Stadt Stuttgart und die Pendler in der Region. Die Volksabstimmung hätte sich folglich auf den Kreis der Betroffenen beschränken müssen, denn den meisten Bürgerinnen und Bürgern im Land ist der Stuttgarter Bahnhof ziemlich egal.


Es handelte sich nicht um eine basisdemokratische Initiative, sondern um ein Referendum, das so kompliziert formuliert war, dass die Bürger weder ausreichend objektiv informiert waren, noch sich über die Konsequenz der Stimmabgabe im Klaren waren (wer für S21 war, musste mit nein, wer gegen S21 war, mit ja stimmen).


Es gab nicht einmal den Anflug einer „Waffengleichheit“ zwischen den Befürwortern und den Gegnern von S21. Eine Bürgerbewegung mit beschränkten personellen und finanziellen Mitteln trat an gegen ein Bündnis aus Betreibern, Industrie sowie die Mehrheit der Parteien und der Mehrheit in den parlamentarischen Vertretungen, das heißt, gegen ein Bündnis, das über weit überlegene personelle und finanzielle Ressourcen und einen privilegierten Zugang zu den Medien verfügte.


Der Abstimmungskampf zu S21 wurde von den Befürwortern mit faustdicken Lügen geführt. Beipiele: „Fertigbauen oder Weiterärgern“, wobei der eigentliche Bau von S21 noch gar nicht begonnen hat. Bisher sind lediglich bauvorbereitende Maßnahmen mit massiven Zerstörungen (Nordflügel, ZOB ein Teil des Mittleren Schlossgartens) durchgeführt worden. Ferner die Ausstiegskostenlüge, die ihre Wirkung auf das Abstimmungsverhalten der Bevölkerung nicht verfehlte. 

Einer der größten Skandale war ferner das Eingreifen vieler eigentlich zur Neutralität verpflichteten Stadtoberhäupter in den Abstimmungskampf zugunsten von S21.

Eine derart offensichtliche Verletzung nahezu sämtlicher „Spielregeln“ für ein demokratisches Verfahren verschafft S21 nur eine Scheinlegitimation. Dass ausgerechnet Sie, Herr Ministerpräsident, und ihre Ministerkollegen, die mit ihrer Gegnerschaft zu S21 den Wahlkampf bei der Landtagswahl 2011 für sich entscheiden konnten, diese Scheinlegitimation dazu benutzen, Ihren „Gesinnungswandel“ vom Gegner zum Befürworter des Projekts zu begründen, empfinde ich als den blanken Zynismus von Machtpolitikern.

Ich gehe davon aus, dass Ihnen die von mir dargestellten Sachverhalte bekannt sind. Erhard Eppler hat einmal gesagt: Das Schwerste für einen Politiker ist die Glaubwürdigkeit. Man kann sie leicht verlieren, aber es ist schwer, sie wieder zu gewinnen. Für mich haben Sie, die Sie doch so großen Wert auf Aufrichtigkeit, Offenheit und Bürgernähe legen, jegliche Glaubwürdigkeit verloren.

Ich würde lügen, wenn ich diesen Brief mit der Formel „Hochachtungsvoll“ unterzeichnete, denn die Hochachtung ist weg.


 
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